Ein wenig Lesen

Buchkater haben – das kenne ich gut. Aber dermaßen erschlagen zu sein von einem Buch, das hab ich noch nicht erlebt. Möglicherweise bei einigen der längeren Murakami-Romane; diese haben mich aber auf eine komplett andere Art geschluckt und durch den psychischen Fleischwolf gedreht. Ein wenig Leben habe ich zwanghaft jede Nacht bis zwei Uhr gelesen, und dennoch die Seiten gezählt, bis ich endlich fertig bin. Und jetzt sind noch einmal ein paar Wochen vergangen, bevor ich was drüber schreiben hab können.

Eine kurze Zusammenfassung: Was als Geschichte von vier Freunden (Willem, JB, Jude, Malcolm) beginnt, kreist zunehmend um Leben und Trauma von Jude, einem gefürchteten Wirtschaftsanwalt, der sich dank seiner hohen Intelligenz aus dem Nichts hinaufgearbeitet hat.

Sie alle – Malcolm mit seinen Häusern, Willem mit seinen Freundinnen, JB mit seiner Malerei, er mit seinen Rasierklingen – suchten Trost, suchten nach etwas, das nur ihnen gehörte, etwas, das ihnen half, die furchterregende Größe, die Unmöglichkeit der Welt, die Unerbittlichkeit ihrer Minuten, ihrer Stunden, ihrer Tage auf Abstand zu halten.

Da ist also ein riesiger Hype in der Literaturwelt. In diesem Fall finde ich, dass er weitaus mehr Berechtigung hat als jener um Elena Ferrantes Freundinnen-Tetralogie. Ich habe zuerst die Hörprobe hören müssen, um dann doch anzufangen, weil mir der Ziegel Respekt eingeflösst hat. Aber: wenn die ersten fünfzig Seiten geschafft sind, ist man drinnen und kann nicht mehr aufhören.

„Es ist ein Märchen, es geht nur nicht gut aus.“ konstatiert Cornelia Geissler auf fr-online.de und ja, das Buch weist viele Merkmale von märchenhaften Texten auf – die unbestimmte Zeit, in der die Handlung stattfindet, die ein wenig archetypenhaften Charaktere. Dieser Umstand wird in manchen Rezensionen kritisiert, aber ich denke, das ist in diesem Fall nicht einer fehlenden literarischen Imagination anzulasten (bitte, die Frau kann einfach extrem gut schreiben!), sondern schlicht und einfach Stilmittel.

Willem beispielsweise ist auf der Suche nach etwas, das seinem Leben Bestand und Inhalt gibt neben der Schauspielerei, er kann mit gefühlskalten Menschen wie seinen Eltern umgehen, und hat Erfahrung darin, sich um einen geliebten, bedürftigen Menschen zu kümmern. All diese Eigenschaften lassen seine intensive Beziehung zu Jude und sein Nicht-Hinterfragen einigermaßen glaubwürdig scheinen, wo sie doch durch und durch unwahrscheinlich ist.

Er wollte seine Eltern anschreien, (…) er wollte es sie einfach sagen hören, wollte spüren, dass unter ihrer unerschütterlichen Ruhe noch etwas lag, dass es irgendwo in ihnen einen schmalen, kalten, schnell fließenden Strom gab, der vor empfindlichem Leben wimmelte, kleinen Fischen und Gräsern und winzigen weißen Blumen, zerbrechlich und verwundbar und so verletzlich, dass man sie nicht ansehen konnte, ohne mit ihnen zu fühlen.

Yanagihara meint in Interviews, sie habe bewusst dick aufgetragen, bewusst zu viel Schmerz, Liebe und Freundschaft hineingepackt, und so ist es. Ich hatte das Gefühl eines epochalen Leseerlebnisses – hier passiert etwas mit mir. Vielleicht wie das erste Rockkonzert, wo du direkt neben der Box stehst, und der Sänger stagedived, und alles super und euphorisierend ist.

Die Autorin umkreist die Geschehnisse in Judes Vergangenheit unzählige Male, streut immer wieder Informationen aus, bis man gegen Ende doch Einiges – das man gleichzeitig begierig und erschrocken wissen und nicht nicht wissen will – erfahren hat, doch lässt sie einige, innerste Details weg, sodass man am Ende das Gefühl hat, überwältigt zu sein von Information, aber gleichzeitig merkt, dass einige Puzzlesteinchen immer noch fehlen. Ähnlich ist es mir bei Die Gestirne von Eleanor Catton gegangen – ein ähnlich dickes, ähnlich komplexes Erzählwerk, das ein Verbrechen immer und immer wieder umkreist, nur um einen dann ratlos zurückzulassen – was ist eigentlich wie genau passiert? Oder habe ich es ob des Wusts an Details einfach übersehen?

Diese Erzählweise ähnelt ein wenig dem Leben – man denkt immer und immer wieder über etwas nach, und doch bleibt unser Wissen immer nur bruchstückhaft. Es gibt eben keinen Überblick, keinen auktorialen Erzähler, und auch wenn beide kunstvoll mit verschiedenen Perspektiven und Stimmen jonglieren, bleibt eine innere Leerstelle, die nicht erleuchtet wird. Interessant.

Sein ganzes Leben bestand aus Masken und Scharaden. Er selbst und sein gesamtes Umfeld veränderten sich laufend: seine Haare, sein Körper, der Ort, an dem er nachts schlafen würde. Er hatte häufig das Gefühl, aus etwas Flüssigem zu bestehen, etwas, das ständig von einer bunten Flasche in die andere geschüttet wurde, wobei jedes Mal ein wenig verlorenging. Aber seine Freundschaft mit Jude gab ihm das Gefühl, dass sein Wesen einen realen und unveränderlichen Kern hatte, dass er seinem Leben hinter Masken zum Trotz etwas Elementares in sich trug, etwas, das Jude sah, obwohl es ihm selbst verborgen blieb, so als wäre es allein Judes Zeugenschaft, die ihn zu seinem wirklichen Selbst verhalf.

Das Buch ist ein bissl so wie die wichtigen Dinge im Leben – anstrengend, zeitraubend, hochschaubahnmäßig mitnehmend. Und deshalb lohnt es sich.

Hanya Yanagihara: Ein wenig Leben (Original: A little life), Hanser Berlin, 2017, ca. 960 Seiten, ca. € 28.-

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