Balg

Ich würde empfehlen, diese Rezension nicht zu lesen. Ich bemühe mich zwar, keine Spoiler einzubauen. Aber das rohe Leseerlebnis ist nicht aufzuwiegen mit einem, das schon mit Informationen und Erwartungen belastet ist. Das Buch erreichte mich komplett unbelastet als Geschenk der lieben @eva_liest. Danke vielmals, ich wäre sonst nicht darauf aufmerksam geworden.

Die Erzählweise ist ein meisterhaftes Beispiel dafür, wie man Dinge zeigt, ohne sie zu benennen. In atemlosen Zeitraffer wechseln sich schmerzhafte Momente und hoffnungsvolle Augenblicke ab, verfliegt eine Kindheit.

Die Handlung begleitet den Bub Timon vom Moment der Geburt bis zu jenem, an dem er nicht mehr bei seiner Mutter wohnt. Er wohnt in einem kleinen Dorf zunächst mit Vater und Mutter, bald nur mehr mit ihr. Grob gesprochen kann man sagen, dass sie keine gute Mutter ist. Systematisch zerstört und verhindert sie alles, was ihm Freude macht, ihm Halt gibt. Sie scheint nur in asymmetrischen Beziehungen leben zu können. Ohne Vater aufgewachsen, will sie selbst weg ins Internat. Sie zieht gegen ihren Willen zurück ins Dorf, weil ihr Mann das so will. Sie unterwirft sich den Vorstellungen ihrer Männer im Austausch für Nähe. Sie handelt ständig gegen ihre eigenen Gefühle, aus Angst, aus Überforderung? Weil sie bang ist davor, was die Leute im Dorf denken, unterlässt sie notwendige Handlungen und setzt andere, von denen ihr Gefühl ihr zumindest hinterher sagt, dass sie falsch sind.

Bis zum Ende ist nicht ganz klar, ob die Mutter einfach überfordert ist oder sie sich am Kind für alles rächt, was ihr vermeintlich angetan worden ist. Eine so durchgehende Lieblosigkeit ist kein Zufall und kann nicht durch reine Überforderung erklärt werden. Oder? Genau das bleibt offen.

Timon findet aber eine Stütze im Außen, einen alten Mann. Diesen wiederum verbindet mit Timons Mutter eine schlimme alte Geschichte. Ein großer Teil des Romans kreist um ihn, der sich mit jahrzehntelanger Ächtung im Dorf abfinden muss.

Man möchte sich über vieles in diesem Buch maßlos ärgern. Die Passivität und Erschöpfung der Großmutter. Über das Übereinander und nicht Miteinander Reden der Leute im Dorf. Die Vorwürfe, die über Jahrzehnte im Herzen und unter der Zunge getragen werden.

Es ist ein erschütterndes Buch über Lieblosigkeit und Sprachlosigkeit und die psychische Misshandlung eines Kindes durch seine Mutter. Das Dorf als Mittäter, das Schuld aufgrund von Vorurteilen zurechnet anstatt von Tatsachen. Ein Text über Entscheidungen: Wie positioniere ich mich gegenüber meiner Umwelt? Was lenkt meine Handlungen? Erstaunlich bleibt, dass dieser Bub durchhält, nicht völlig bricht unter den seelischen Verletzungen, die ihm zugefügt werden. Es ist auch ein Buch über Ressourcen und Zuflucht. Und darüber, wie Misstrauen und Vertrauen verteilt werden. Ein Plädoyer fürs Genau Hinschauen.

Bei der Verleihung des Schweizer Buchpreises drücke ich sehr, sehr fest die Daumen.

Tabea Steiner :: Balg :: 2019 :: edition bücherlese :: 240 Seiten :: ISBN 978-3-906907-19-2

Tabea Steiner Balg Roman

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